Musikalische Sozialisierung (I): Pipel ar Pipel

Aus dem Lautsprecher des Schwarz-Weiss Fernsehers meiner Eltern schallen metallische Klänge. Auf dem Bildschirm prügeln vier Jungs auf die gigantischen Ankerketten eines Kriegsschiffes ein. Ich sitze wie gebannt vor der Bildschirm und sauge die Bilder und die Musik auf. Ich habe keine Ahnung, wovon diese unglaublich coolen Jungs singen aber den Refrain, den kann ich mir merken: Pipel ar Pipel so wei schut it bi. Bei Formel Eins läuft Depeche Modes neues Video People Are People und ich bin 10 Jahre alt.


An diesem Tag wird mir bewusst, dass es mehr Musik gibt als die, die ich bei meinen Eltern höre und mit der ich gross geworden bin. Mit meiner Kindheit verbinde ich die Musik Miriam Makebas, Mercedes Sosas, Georges Moustakis, Jaques Brels, George Brassens, der Bots (kann sich noch jemand an dieses Cover mit den E-Gitarren als Geschütze auf einem Panzer erinnern?) und wenn meine Mutter einen Moment der Schwäche hatte, auch die der ZDF-Hitparade.

Aber das da, was ich da bei Formel Eins höre und sehe, ist völlig anders. Heftig, rhytmisch und klingt vor allem spektakulär: Musik aus Lärm. Toll! Ich beschliesse, dass Depeche Mode fortan meine Lieblingsband sei. Auch wegen des Bandnamens. Depeche Mode. Schnelle Mode oder so. Das ist gut. Das kann ich leicht behalten. Französisch kann ich ein ja wenig und Englisch werde ich erst 2-3 Jahren lernen. Also trage ich in jede Ausgabe Meine Schulklasse, die mir meine Mitschülerinnen in die Hand drücken, unter Lieblingslied „Pipel Ar Pipel“ ein und bin ungeheur stolz.

Nach diesem einschneidenden Erlebnis beginne ich, mich ernsthaft für Musik zu interessieren. Ich finde heraus, wie ich mit meinem Grundig Mono-Kassettenrecorder mit dem eingebauten Mikrofon Musik aus dem Radio aufnehmen kann. Kabellos. Klar. Schnell wird mir die miserable Qualität der Aufnahmen bewusst, etwas Besseres muss her. Ich bekomme einen Panasonic-Stereo-Kassettenrecorder, mit dem man ganz passable Aufnahmen machen kann. Da mein Taschengeld für Leerkassetten oft nicht reicht, muss meine Hörspielkassettensammlung daran glauben. Ich finde heraus, dass es genügt, einen kleinen Streifen Tesa-Film über die Löcher auf der Oberkante der Kassetten zu kleben, um sie neu zu bespielen. Auf Wiedersehen Justus Jonas, willkommen Dave Gahan!

Das nächste Mal erzähle ich Euch dann, wie ich Kraftwerk für mich entdeckte und warum ich trotzdem Techno ganz schön lange ganz schön scheisse fand…

Veröffentlicht von Andreas

Andreas Schepers leitet die Kommunikation des Berliner Labors des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz, DFKI. Hier schreibt er privat über Dinge, die ihn interessieren: Astronauten, Pop, etc... und KI.

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11 Kommentare

  1. Uff. Ich kannte ausschließlich die ZDF-Hitparade und Schlimmeres. Meine Mutter würde „Jaques Brel“ sicher für einen französischen Weichkäse halten.

    In diese Schulpoesiealben haben bei mir fast alle „Da Da Da“ von Trio eingetragen. Die kannte ich, nämlich aus der ZDF-Hitparade ;)

    Das alles bringe ich heute als Entschuldigung für meine pubertierende Affinität zu Gitarrenrock vor. Ich war so uncool, das glaubt man gar nicht. (Nicht, dass ich heute cooler wäre…)

  2. Oh ja, das waren noch Zeiten. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich Musik mit meinem Kassettenrekorder vom Fernseher (!!) aufgenommen habe. Währenddessen mussten alle ganz mucksmäuschenstill sein. Und wie hart einem diese Musik von Depeche Mode vorkam.
    Damals wurde übrigens einer der ersten jugendlichen Depeche Mode-Fans im Dorf (so richtig mit Martin-Gore-Frisur) noch wie ein Schwerverbrecher angeschaut. Unglaublich.

  3. pipel ar pipel – wie toll :-)

    ich kann mich an so ein erlebnis leider nicht mehr erinnern – mag daran erinnern das durch meine schwester und mein vater irgendwie musik schon immer da war (die hoerten dann nirvana metallica und the doors und so) – ich habe keine ahnung wann ich mich dann auch richtig fuer musik interessierte – dauert aber lange …

  4. @ntropie: mo, keine sorge. du bist cool. :)
    @nicorola: ja. dm war hart. und dunkel. und soooo cool ….
    @erik: hübsche reihe – nirvana, metallica und doors ;)

  5. Bei den meisten verläuft die musikalische Entwicklung ja andersherum, erst Pop und später dann Chansons, Liedermacher mit politischer bzw. weltanschaulicher Mission, Weltmusik usw. – Und jetzt nich hauen, weil ich DM der Einfachheit halber mal grad in die Pop-Schublade stecke. – Will damit nur sagen, es gibt noch ganz andere frühkindliche musikalische Prägungen: Operetten, Säuferlieder, miese Schlager, Volksmusik und sonstige gruselige akustische Ereignisse… Also halte es mit dem 4 (oder wars das 5.?) Gebot.
    Mein 1. popkulturelles Erlebnis war übrigens der Siegeszug Abbas beim Grand Prix Eurovision (als du das Licht der Welt usw.), was unserer Familie eine kurze und einzigartige Periode der musikalischen Geschmacksharmonie bescherte.

  6. … „Birds, dont come easy“ von F.R. David war mal mein absoluter Sommerhit ;-)

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