Internationale Raumstation ISS evakuiert? Nicht wirklich.

The International Space Station and the Docked Space Shuttle Endeavour
Foto: NASA/ESA/Roskosmos

Heute (Dienstag, 28.6.2011) nachmittag meldeten zunächst die Nachrichtenagentur AFP und anschließend auch dpa, dass die Internationale Raumstation ISS evakuiert worden sei: Weltraumschrottalarm!

Viele Medien (Google News findet aktuell 245 deutschsprachige Treffer dazu) übernahmen die Meldung unter Berufung auf gleichlautende Agenturmeldungen, die alle genau eine Quelle hatten: eine Meldung der russischen Agentur Interfax von 15:23 Uhr MESZ.

Die Nachricht stimmt so nicht. Jedenfalls nicht ganz.

Was, nach meinem Kenntnisstand, passiert ist, will ich hier kurz und stark vereinfacht zusammenfassen:

Die Höhe, in der die ISS um die Erde fliegt, beträgt aktuell etwa 385 Kilometer. Das ist ein so genannter Low Earth Orbit (LEO). Leider ist dies eine Höhe, in der auch relativ viele Raumfahrtrückstände, also von Menschen in das Weltall verbrachte Objekte, Weltraumschrott, anzutreffen sind. (Zum Thema Weltraumschrott siehe Florian Freistetter im Forschungs-Blog)

Weltraumschrott, der Satelliten und der Raumstation gefährlich werden kann, wird beobachtet. Es existiert ein Katalog mit etwa 19.000 Objekten, die größer als ein Zentimeter sind – nur diese können bisher erfasst werden. Und das auch nicht vollständig. Daneben gibt es geschätzte 650.000 weitere Objekte von geringerer Größe, die aktuell nicht erfasst werden können.

Die Bahndaten der ISS und vieler Satelliten werden mit denen dieser größeren Objekte abgeglichen. Stellt sich heraus, dass eine Kollision droht, können Raumstation oder Satelliten ausweichen.

Pizzabox

Im Falle der ISS wird ein virtuelles Rechteck als Sicherheitszone um die Raumstation gezogen, die so genannte Pizzabox. Diese hat eine Größe von 1,5 mal 50 mal 50 Kilometer mit der ISS in der Mitte. Wenn vorausberechnet wird, dass ein Objekt innerhalb eines
definierten Zeitraums diesen Sicherheitsbereich durchqueren wird, werden Ausweichmanöver erforderlich.

Die Vorbereitung und Einleitung eines Ausweichmanövers beansprucht jedoch eine gewisse Vorlaufzeit.

Bei dem heutigen Zwischenfall war die Zeit zwischen der Entdeckung des Objekts und dem berechneten Zeitpunkt der größten Annäherung (Time of closest approach, TCA), 14:08 MESZ, zu kurz (mehrere Stunden), um ein Ausweichmanöver (Debris avoidance maneuver) der ISS zu initiieren.

Einige Zeit vor dem TCA wurden die Astronauten aufgefordert, entsprechend der dafür vorgesehenen Prozeduren, die Sojus-Kapseln aufzusuchen. Diese bieten aufgrund ihrer Struktur einen höheren Schutz vor Einschlägen (kleineren Weltraumschrotts) als die Internationale Raumstation. Aber auch die Station selbst ist durch einen Schutzschild vor Einschlägen kleinerer Objekte geschützt.

Der Kommandant der Raumstation Andrey Borisenko, seine Kollegen Alexander Samokutyaev und Ronald Garan zogen sich in die Sojus TMA-21 Kapsel zurück, die an das Poisk-Modul gekoppelt ist. Sergei Volkov, Michael Fossum und Satoshi Furukawa hielten sich an Bord der Sojus TMA-02M auf, die an das Rassvet-Modul gekoppelt ist.

Bereits vier Minuten nach TCA, also 14:12 MESZ, wurden die Astronauten aufgefordert, die Sojus-Kapseln wieder zu verlassen. Kurz darauf konnten sie sich wieder ihren täglichen Aufgaben an Bord der Raumstation widmen.

Interfax berichtet mehr als eine Stunde später

Die russische Agenturmeldung kam also erst ganze 71 Minuten nachdem die Astronauten bereits die Freigabe erhalten hatten, die Sojus-Kapseln wieder zu verlassen. Leider liegt mir nur die Überschrift der Meldung vor: Space trash approaching ISS; crew hides in Soyuz.

Die deutschen Agenturen haben diese Meldung übernommen und sprachen von einer Evakuierung. Dabei ist eine Evakuierung tatsächlich mit der Aufgabe der Station, das heisst dem sofortigen Verlassen verbunden. Was heute passiert ist, war unplanmässig, keine Frage. Allerdings passierte alles gemäß der dafür vorgesehenen Prozeduren.

Von einer Evakuierung zu sprechen ist also nicht ganz richtig.

Es war übrigens erst schon das zweite Mal, dass die Bodenkontrolle die Astronauten aufgefordert hat, sich in die Sojus-Kapseln zurückzuziehen. Ein ähnlicher Vorfall ereignete sich 2009.

Dass die Raumstation Weltraumschrott ausweichen muss, geschieht indes öfter mal.

Es ist übrigens immer noch nicht klar, welchen Ursprungs das Objekt war, dass heute der ISS auf 250 Meter nahe kam. Auch wurden Größe und Masse des Objektes nicht bekannt.

[Update] Jonathan Amos, der stets bestens informierte Raumfahrt-Korrespondent der BBC, twittert, in Berufung auf die NASA, dass das Objekt die Raumstation in einer Entfernung von 335 Metern passiert hat. Das sei der kleinste Abstand zwischen der Station und einem Stück Weltraumschrott, der jemals aufgetreten sei.

Mehr zum Thema Weltraumschrott gibt es im Raumzeit Podcast von ESA und DLR zu hören, Informationen zu Weltraumschrott und bemannter Raumfahrt gibt es von der NASA.

Update: Mittwoch, 29.06.2011

Inzwischen hat die NASA eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse veröffentlicht:

Conjunction Alert: Last night at ~6:00pm EDT, NASA Houston FTC (Flight Control Team) received notification of an upcoming “red threshold” conjunction of the ISS with a piece of orbital debris (Object 82618, UNKNOWN), with a TCA (Time of Closest Approach) this morning at 8:08am EDT, – which was too late to begin planning for a DAM (Debris Avoidance Maneuver). Therefore, FTC and crew made preparations for crew sheltering in Soyuz 26S & 27S. PC (Probability of Collision) at last tracking fix (7:20am) remained in the Red box, at ~0.003, with a miss distance of 0.25 km radial, 0.375 km downtrack, 0.570 m crosstrack. The necessary reconfiguration procedures (USOS hatches closed, etc.) began 1.5 hrs before TCA (6:38am EDT), and the six crewmembers ingressed their Soyuz vehicles. At 8:08am the object cleared the ISS with no impact, and shortly thereafter the crew was given the Go for returning to the ISS. [The late notification occurred because of the high air resistance (drag) of the object (~175 times higher than ISS) which made its trajectory very sensitive to small errors in atmospheric density predictions at the current solar flux. Due to the high drag, there is no chance of a recurrence of Object 82618).]

Veröffentlicht von Andreas

Andreas Schepers leitet die Kommunikation des Berliner Labors des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz, DFKI. Hier schreibt er privat über Dinge, die ihn interessieren: Astronauten, Pop, etc... und KI.

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4 Kommentare

  1. Wenn die Astronauten die ISS auf einen Einschlag vorbereiten und die Luke hinter sich zuziehen (ich weiß nicht, ob es in diesem Fall so war), kann man nach meinem Sprachgefühl schon von einer Evakuierung sprechen – natürlich immer mit der erklärenden Einschränkung, dass sie nicht abgedockt habenb. Die englische Sprache tut sich da leichter, weil es die Formuliertung „evacuated into“ gibt. Im Deutschen können streng genommen nur Gegenstände, Gebäude, Raumstationen evakuiert werden, aber keine Menschen (Sprachpuristen würden sagen: Aus einem evakuierten Menschen ist die Luft raus ;-) Aber für sprachliche Feinheiten ist im Nachrichtengeschäft eh kein Platz.

    Davon abgesehen: Ich weiß, dass die Bodenkontrolle in Moskau für das Manöver verantwortlich war, aber trotzdem. Wenn vier Minuten nach TCA offiziell Entwarnung gegeben werden konnte, warum nutzen die westlichen Raumfahrtagenturen dann nicht wenigstens Echtzeitmedien wie Twitter, um diese Nachricht zu verkünden und ein Gegengewicht zu den traditionell hinterher hinkenden Nachrichtenagenturen zu schaffen?

  2. @Alexander Stirn.

    Danke für den Hinweis auf „evacuated into“. Das war mir so nicht ganz klar.
    Nach meinem Kenntnisstand war es tatsächlich so, dass die Astronauten „die Türen“ hinter sich zu gemacht haben, ja.

    Was die Nutzung der Echtzeitmedien betrifft: Klar, wäre das wünschenswert. Warum das aber noch länger nicht der Fall sein wird, erzähle ich Ihnen lieber persönlich ;)

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