Osteuropa Reise – Etappe 2: Krakau – (Przemysl) – Odessa

Przemysl Bahnhofskiosk

Am Abend erreichen wir den Grenzbahnhof in Przemysl. Der kleine Bahnhofsvorplatz liegt ausgestorben vor uns, nur eine Eckbar leuchtet wenig einladend. Im Bahnhof haben Kiosk und Zeitschriftenbude längst geschlossen, nur wenige Reisende haben sich in den alten Wartesaal verirrt. Dieser erinnert mit seinen massiven Holzbänken eher an ein Kirchenschiff – und tatsächlich hängt an der Wand das obligatorische Kruzifix. Da es im Wartesaal Steckdosen gibt, beschliessen wir kurzerhand, Strom zu ihlen, um die Wartezeit auf die Abfahrt unseres Nachtzuges nach Odessa absurderweise mit einigen Folgen Californication zu überbrücken.

Ausreise Ostwärts

Zwanzig Minuten vor der Abfahrt des Nachtzuges packen wir zusammen uns machen uns auf dem Weg zu Bahnsteig 4. Zu unserer Verwunderung liegt der Zugang zu diesem Bahnsteig ausserhalb des Bahnhofs. Nach fünf Minuten erreichen wir zwar den Bahnsteig – aber massive Metallzäune versperren uns den direkten Zugang. Bevor wir auf den Bahnsteig gelangen können, müssen wir erst einmal die Ausreiseformalitäten hinter uns bringen. Dummerweise sind die Türen zum Gebäude, in dem sich die Zollabfertigung befindet, schon geschlossen. Wir sind spät dran. Nach einigem Rütteln und Klopfen an der Tür wird uns doch noch geöffnet.

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Ob wir am Flughafen auch erst zehn Minuten vor Abflug auftauchen würden, fragt uns der polnische Zöllner, der spielend zwischen Polnisch, Russisch, Ukrainisch und Englisch zu wechseln scheint. Wir lächeln freundlich, meine Begleiterin erfreut den Grenzbeamten mit einem charmanten Augenaufschlag und winken mit unseren Pässen. Auf Wiedersehen EU.

Mit etwa fünfzig anderen Reisenden stehen wir nun in einem umzäunten und überdachten Aussengelände. Hinter uns wird die Tür zur Zollabfertigung wieder abgeschlossen, der Weg zum Zug wird von einem militärisch aussehenden polnischen Grenzbeamten versperrt. Es ist kalt. Mit erstaunlichem Gleichmut warten die Reisenden darauf, endlich an Bord des Nachtzuges steigen zu dürfen.

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Kurswagen in Richtung Odessa

Eine Viertelstunde später geht es endlich los. Die wenigen Reisenden verteilen sich entlang des Zuges. Auch wir finden unseren Wagon und unser Abteil. Unser Wagon ist ein altersschwacher aber charmanter Schlafwagen aus Sowjet-Zeiten, der mindestens 40 Jahre auf dem Buckel hat. Die Abteile bestehen aus jeweils vier Betten: schmal aber durchaus bequem.

Schlafwagen

In jedem Schlafwagen gibt es einen Wagon-Chef. In unserem Fall ist es eine vielleicht sechzigjährige Frau, die wir im Laufe der Nacht noch „Mother of Train“ taufen. Sie kontrolliert die Tickets, notiert die Anzahl der Reisenden und ihre Nationalität, verteilt Bettbezüge, gibt Auskünfte und verkauft heißen Tee.

Schmuggler

Kaum hat sich der Zug in Bewegung gesetzt, bricht eine rätselhafte Hektik im Zug aus. Männer und Frauen rennen schreiend durch den Zug, reissen die Türen zu den Abteilen auf und zerren Plastiktüten aus ihrem Versteck in der Abteilverkleidung.

Mir ist bis heute völlig schleierhaft, was dort in von wo in welche Richtung geschmuggelt wird. Da der ukrainische Zug erst an der Grenze eingesetzt wurde, kann es gut sein, dass die Schmuggelware, vielleicht Zigaretten, also bereits in der Ukraine an Bord kam, um sie dann auf dem kurzen Stück zwischen dem Grenzbahnhof und der Staatsgrenze auf polnischen Territorium abzuwerfen. Vielleicht ist aber auch alles ganz anders. Rätselhaftes Ost-Europa.

Einreise in die Ukraine

Kurze Zeit später stoppt der Zug und ukrainische Grenzer kommen an Bord. Die Schmuggler haben zu diesem Zeitpunkt den Zug längst verlassen. Die Grenzsoldaten sind mit einem Notebook bewaffnet, in dem sie die Daten aller Reisenden eingeben. Überhaupt werden die Einreiseformalitäten in der Ukraine sehr ernst genommen. Zwar braucht man als EU-Bürger kein Visum mehr, allerdings ist ein zweiseitiges Formular auszufüllen, dessen zweite Hälfte man bei der Ausreise wieder vorlegen und besser nicht verliert. Ob ich das erste Mal in die Ukraine reise, will die junge Grenzsoldatin wissen. Als ich ihr sage, dass dies meine dritte Reise in die Ukraine ist, huscht ein kurzes Lächeln über ihr sonst strenge Autorität ausstrahlendes Gesicht. Erst bei der Rückgabe meines Reisepasses bemerke ich ihre langen, in grellen Farben lackierten Fingernägel.

Bei Alexander, der mit uns das Abteil teilt, dauert die Prozedur länger. Alexander hat von seinem Vater den ukrainischen Nachnamen geerbt, ist in Estland geboren und lebt inzwischen in Kanada. Obwohl er auch als Kanadier einreisen könnte, zieht er es vor, seinen estnischen Pass zu benutzen. Die Grenzsoldaten prüfen das Dokument kritisch. Ob er vielleicht noch weitere Ausweispapiere bei sich habe. Nach Begutachtung von Führerschein und Kreditkarten glaubt man ihm schliesslich, dass er kein Ukrainer ist, der mit einem gekauften ausländischen Pass unterwegs ist.

Nach den Grenzsoldaten kontrollieren noch Zollbeamte den Zug. Sie lassen sich kurz unser recht umfangreiches Gepäck zeigen, verzichten aber darauf, sich den Inhalt unserer Koffer und Pakete näher anzusehen. Danach kann es endlich weitergehen. Richtung Osten, Richtung Lviv.

Lemberg

Gegen 23:00 erreicht unser Zug Lviv, Lemberg. Hier wird unser Wagon, der einzige, der bis nach Odessa fährt, abgekoppelt und über lange Gleisstrecken hin und her rangiert. Insgesamt haben wir über eine Stunde Aufenthalt. Zeit genug, sich bei minus 10 Grad draussen die Beine zu vertreten oder am Bahnhof Geld zu wechseln und Proviant zu kaufen.

Kurswagen: Waiting for the train...

Später wird unser Wagon einem anderen Zug angehängt und wir setzen unsere Fahrt in Richtung Süd-Osten fort. Inzwischen hat unsere „Mother of Train“ die Heizung voll aufgedreht. Unser Abteil gleicht einer finnischen Sauna auf Schienen. Der Kohleofen verbreitet eine trockene Hitze, die die dicken Decken auf den Betten überflüssig macht.

Nach einem späten Abendbrot mit frisch gekochten Eiern, Brot und Bier, lege ich mich in eines der oberen Betten des Abteils. Das regelmässige Rattern des alten Wagons wiegt mich sanft in den Schlaf….

Odessa

Nach fast zehnstündigem, tiefen Schlaf wache ich auf. Nur noch drei Stunden bis Odessa. Am Bahnhof unseres letzten Halts vor unserem Ziel liegt zentimeterhoher Schnee. Es ist kalt, die Sonne scheint und die frische Luft macht schlagartig wach.

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Bahnarbeiter enteisen die Wagons und auf dem Bahnsteig verkaufen alte Frauen Lebensmittel und Süssigkeiten an die Reisenden. Wir sind noch bestens versorgt und warten ungeduldig darauf, dass es endlich weitergeht.

Schliesslich packen wir unsere Sachen zusammen, ziehen die Betten ab und schauen aus dem Fenster. Die Landschaft verändert sich, je näher wir dem Schwarzen Meer kommen. Der Schnee geht zurück und wir fahren durch dicht besiedelteres Gebiet.

Dann, nach neunzehn Stunden Fahrt quer durch die Ukraine, erreichen wir unser Ziel.

Odessa, endlich!

Veröffentlicht von Andreas

Andreas Schepers leitet die Kommunikation des Berliner Labors des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz, DFKI. Hier schreibt er privat über Dinge, die ihn interessieren: Astronauten, Pop, etc... und KI.

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2 Kommentare

  1. Hey, danke für’s Lesen :)

    Doch, doch: Lemberg soll schön sein – nur hatten wir es ein bisschen eilig nach Odessa zu kommen….

    Eine grössere Ukraine-Reise über Lemberg bis an die Krim will ich unbedingt bald noch machen…

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